9. Tag
Von Vallehermoso ins Valle Gran Rey
(locko)
19. März 2007

In der letzten Nacht habe ich kaum ein Auge zu gemacht. Ab Mitternacht fegte ein Gewitter nach dem anderen über Vallehermoso. Bei Starkregen, Blitzen und Donnern war an Schlaf nicht zu denken. Zudem hatte ich (auch weil billig) das beschissenste Zimmer meines gesamten Urlaubs: etwa 1,50 Meter breit, ein ich weiß nicht wonach stinkendes Bett an der Wand, ein völlig kaputter Kleiderschrank und ein Stuhl mit einem verdreckten Glas darauf als Nachttisch (der hatte auch nur drei Beine und stand nur deshalb, weil er an die Wand gelehnt war). Die "Aussicht" aus dem kleinen Fenster bot einen Blick auf ein Plastikdach und einen jämmerlichen Patio. Fällt Regen auf eine solche Überdachung macht das zusätzlich donnernden Lärm. Hätte ich das Fenster zu gemacht, was den Lärmpegel sicher etwas reduziert hätte, wäre ich wahrscheinlich in dem vorherrschenden Gestank erstickt (am eigenen wohlgemerkt und an dem undefinierbaren Geruch, der beständig aus der Matratze kroch). Die Matratze roch nicht einmal nach etwas menschlichem, sondern danach, als hätte es sich darauf über Wochen eine Herde Ziegenböcke bequem gemacht und herumpubertiert. Danach wurde wohl versucht, den Gestank mit allerlei chemischen Zeugs zu Leibe zu rücken. Naja, war ja nur für eine Nacht... Ich "schlief" (lag) in voller Montur im Bett, weil ich etwas Sorgen hatte, mich würden mehrere Generationen Bettwanzen und Flöhe aussaugen. Floh- und Wanzenbisse hatte ich am nächsten Morgen trotzdem.

Gegen halb sieben stand ich auf, packte, diesmal zwei Rucksäcke, und ging, um mich zu informieren, zur gegenüber der Pension liegenden Parada de las Guaguas (zu deutsch: Bushaltestelle). An Wandern war bei dem anhaltend starken Regen wohl nicht zu denken. Der Weg ab Abzweig Taguluche würde für etwa eine halbe Stunde entlang eines sehr schmalen, felsigen Schichtbandes verlaufen, was für sich schon nicht ungefährlich ist. In Kombination mit Regen und möglichen Steinschlägen würde das sicher kein Vergnügen werden. Außerdem wären durch den immernoch anhaltenden Starkregen wahrscheinlich alle Barrancos bis zum Rand voll mit fließenden Bächen oder Flüssen. Ein paar davon hätte ich schon im Einstiegsbereich innerhalb Vallehermosos zu durchqueren. Die Wege im Baumheide- Buschwald wären zudem mit einiger Wahrscheinlichkeit so schlammig, dass weder an ein gutes Vorankommen im Auf-, noch im Abstieg nicht zu rechnen wäre. Beim besten Willen und so schade das nunmal ist, dass ich die Runde vielleicht in diesem Urlaub nicht mehr "voll" machen könnte, ich habe Urlaub und will den erholt, zumindest jedoch "unversehrt" überstehen. Schöne Scheiße. Vernünftig wie ich bin, entschloss ich mich mich mit dem Bus zu fahren.

Das ist von Vallehermoso aus mit dem Fahrtziel Valle Gran Rey nicht ganz unkompliziert. Prinzipiell bestehen zwei Möglichkeiten ab Vallehermoso: die erste (kürzere Variante) würde zunächst mit einem Bus in Richtung La Dama bis Chipude (in den Bergen) und von da aus mit der Linie 1 weiter in das Valle Gran Rey führen. Der Nachteil ist dabei (zumindest vor dem Hintergrund des vorherrschenden Wetters), dass in Chipude kein unmittelbarer Anschluss in das Valle Gran rey besteht und man in der eiskalten Nebelsuppe von Chipude (das Dorf liegt immerhin über 1.000 Meter hoch) einige Stunden warten müsste. Außerdem würde der Bus nach La Dama erst um zehn abfahren. Die zweite Variante, die deutlich weiter ist und genau so lange dauert, verläuft über San Sebastian. Von dort aus könnte ich entweder mit der Fähre oder mit einem weiteren Bus in das Valle Gran Rey fahren. Vielleicht würde auch noch ein Frühstück in San Sebastian für mich abfallen. Also wählte ich Variante 2.

Mein Reiseführer gab an, dass um acht ein Bus von Vallehermoso nach San Sebastian fahren würde. Es war aber durchaus möglich, dass er auch um halb acht oder halb neun fahren würde. An der Bushaltestelle war nur eine Übersichtskarte der Buslinien auf La Gomera aber keine mit Abfahrtzeiten. Toll. Sich vor dem Regen schützend saßen zwei Frauen in der Bushaltestelle und schwatzten. Die fragte ich nach der Abfahrtszeit: "A las siete" war ihre Antwort. Hoppla dachte ich, eine ganze Stunde früher als erwartet. Es war bereits wenige Minuten vor sieben Uhr und ich Rindvieh hatte noch meinen Zimmerschlüssel in der Tasche. Den musste ich noch abgeben. Also: wieder zurück über die glitschig nasse Plaza und den Schllüssel in das Zimmer legen. "Tranquilo, tranquilo..." rief mir eine Frau noch hinterher, der Bus sei ja noch nicht da und wer wüsste schon, ob er bei diesem Mistwetter überhaupt fährt. Weiß die denn, was ich vorher noch alles zu erledigen hätte? Also beeilte ich mich und gab Order, dass sie den Buss bitte aufhalten sollten, bis ich ganz in Kürze wieder zurück wäre. Meinen großen Rucksack ließ ich zur Bekräftigung meines Wunsches an der Haltestelle stehen. Ich vertraute den beiden.

Ich lief also gar nicht "tranquilo" zurück zur Pension, ließ meinen Schlüssel im Zimmer zurück, machte einen letzten prüfenden Blick, ob ich auch nichts vergessen habe, und lief zurück zur Bushaltestelle. Es war gut, dass ich mich so beeilt habe, denn der Bus ließ bereits einsteigen. Ich habe den Bus gerade noch erreicht, wuchtete meinen großen Rucksack in den Kofferraum, stieg ein und machte es mir bequem. Ich freute mich auf ein Stündchen Schlaf, eineinhalb Stunden würde die Fahrt nach San Sebastian dauern, genug Zeit also etwas vom verloren gegangenen Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Diesen Plan machte aber die vor mir sitzende Spanierin zunichte. Eine alte Klatschbase war das, die den Busfahrer ununterbrochen die gesamte Fahrt über zutextete. Man stelle sich das mal in einem Berliner Linienbus vor... Der Busfahrer selbst war aber auch nicht besser. Ich glaube, die haben sämtliche tatsächlichen und potenziellen Verwandtschaftsverhältnisse der Insel einer genauen Prüfung unterzogen. Oh Mann...

Gegen halb neun war ich (wieder einmal) in San Sebastian, um elf Uhr würde der Anschlussbus in das Valle Gran Rey abfahren. Genug Zeit etwas zu frühstücken, herum zu lungern und in ein Internetcafé zu gehen. Das schwere Wetter der vergangenen Nacht hinterließ deutliche Spuren auf den Straßen. Teilweise liefen ganz beachtliche Schlammflüsse die Carretera del Norte entlang, kleinere und größere Felsbrocken zwangen den Bus zu abenteuerlichen Slalomfahrten nah am Abgrund. Überall wo die steil aufragenden Felswände von Kerben und Einschnitten durchbrochen waren, gingen Wasserfälle zu Tal. Eigentlich ein grandioses Schauspiel. Sehr oft kommt das nämlich auf den relativ trockenen Inseln nicht vor. Es muss in der letzten Nacht also ordentliche Mengen geregnet haben.

In San Sebastian schien allerdings die Sonne - schön. Auf dem Meer konnte man aber sehen, wie sich die riesigen Wolkentürme formierten. Das ließ auch für den heutigen Tag nicht unbedingt gutes Wetter erwarten - mein Entschluss nicht zu laufen war also richtig. Auf der Fahrt in das Valle Gran Rey waren einige Wandergruppen im Bus, die um den Garajonay, dem höchsten Inselberg, herum wandern wollten. Ganz schön mutig dachte ich mir, denn wenn sich die Wolken irgendwo abregnen würden, dann mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Gipfelregion der Insel. Vom Bus aus konnte man sehen, dass die ganze Insel, insbesondere auch der Süden, beachtliche Regenmengen abbekommen haben mussten. Überall, selbst in den ansonsten staubtrockenen Barrancos des Südens, stürzten Wasserfälle zu Tal und in den Bachbetten der Barrancos konnte man gurgelnde Bäche erkennen.

Gegen halb eins kam ich in La Calera im Valle Gran Rey an. Auch hier konnte man zahlreiche Wasserfälle ausmachen. Im Bachbett des Barranco de Valle Gran Rey strömte ein beachtlicher Fluss in Richtung Meer. Normalerweise kann man dort gemütlich entlang laufen. Wasser fließt da sehr selten entlang. In den zehn Jahren, die ich auf die Insel fahre, habe ich dieses Schauspiel erst zwei Mal erlebt. Obwohl ich meistens im Winter dort bin, der Jahreszeit, die mit den meisten Niederschlägen aufwarten kann. Natürlich regnete es auch zum Zeitpunkt meiner Ankunft. Alles war unglaublich grün. Ich bezog mein Zimmer in der bei mir sehr beliebten Cabana Itaca, diesmal hatte ich sogar einen kleinen Balkon mit Blick auf das Meer. Nicht wie sonst die kleine Besenkammer, die mit mir und meinem Rucksack bereits reichlich voll war und die einen atemberaubenden Ausblick auf eine Felswand bietet. Ich packte notdürftig meinen Rucksack aus, denn den Rest meines Aufenthalts würde ich dort bleiben. 

Anschließend traf ich mich mit Dana und Manni und wir gingen an die Playa um irgendwo etwas zu trinken. Immer wieder regnete es. Im Kodakladen von Thomas Müller in La Playa kaufte ich mir zunächst einmal eine Eintrittskarte für das Spektakel, das am kommenden Samstag im Castillo del Mar stattfinden würde. Bekannte Barden der Insel, die "El Grupo Son Gomero" würden dort aufspielen. Es handelt sich dabei um respektable Herren, die sich dem Liedgut der Insel und Lateinamerikas verschrieben haben. Irgendwie so ähnlich wie meine Buckau Boys zu Hause, die sich allerdings dem einheimischen, deutschen Liedgut der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts widmen.

Im Anschluss daran machten wir es uns an einer Promenadenbar bequem und tranken ein paar Biere. Nach der Siesta gingen wir los in Richtung Vueltas, entlang der Straße, die direkt am Meer zunächst nach La Puntilla führt. Bis zum Jahr 2002/2003 war das lediglich eine Schotterpiste, allerdings gut mit PKW's befahrbar. Jetzt hat sie eine ordentliche Schwarzdecke, Höchstgeschwindigkeiten bis 120 km/h sind jetzt kein Problem mehr. Das ganze hat nur einen Nachteil: Wenn ein- bis zweimal im Jahr Wasser durch den Barranco läuft wird sie unterspült und landet dann teilweise im Meer. Dieses Desaster wollten wir uns als Hobby-Katastrophentouristen natürlich nicht entgehen lassen. Ganz so schlimm war es allerdings nicht. Die Straße war zwar voll mit Dreck und Felsbrocken, wurde aber nicht unterspült. Ein Hoch auf die Straßenbaukunst der Kanarier.

Der Tag klang schließlich am Meer aus. Die untergehende Sonne zauberte eine eindrucksvoll dramatische Szene: Die mächtigen Wolkentürme, die eher größer als kleiner wurden, sahen jetzt noch bedrohlicher aus. Ob es jemals wieder besser würde, das Wetter? Von La Palma hörte man von 250 Litern Niederschlag in zwölf Stunden im kleinen, nordwestlich gelegenen Ort Garafia. Das ist etwa die Hälfte der Regenmenge, die dort üblicherweise in einem Jahr gemessen wird. Ich will nicht wissen, wie es in den Höhenlagen aussah. Manni zeigte mir auf seiner modernen Digitalkamera ein Bild, das die Höhenstraße auf La Gomera in einem fremd wirkenden "weiß" zeigte. Das war wohl Hagel und die Temperaturen sollten dort, auf etwa 1.100 Metern Höhe, nur geringfügig über dem Gefrierpunkt gelegen haben.

Für morgen plane ich aus dem Valle Gran Rey heraus über Gerian, La Dama und La Rajita nach Alajero zu wandern und eventuell weiter nach Playa Santiago. Ein mindestens zwölfstündiger Gewaltmarsch stünde mir also bevor. Der würde zumindest halbwegs stabiles Wetter, zumindest aber keine heftigen Regenfälle erfordern. Mehrere Barrancos müssen durchstiegen werden und wenn ich mir das Valle Gran Rey so ansehe, könnte das eine ziemlich feuchte Angelegenheit werden. Warten wir es ab.

Alle Bilder sind von Thomas Hering. Sie können für nicht komerzielle Zwecke und unter Verweis auf den Urheber kostenfrei verwendet werden.